
Tanz mit Maschinen
Hinter den Kulissen von „Oracle“
Ein verregneter Frühlingsmorgen in Riga. Im Dailes-Theater, dem Probenort von Oracle, ist schon früh etwas in Bewegung. Im Foyer tanzt das Ensemble Swing – locker, lebendig. Dann wechselt die Stimmung: Bewegungen verlangsamen sich, jede Geste zieht sich in die Länge. Später laufen Szenen rückwärts, als würde jemand zurückspulen. Diese Bewegungsformen werden einzeln erarbeitet – bis sie in einer improvisierten Session aufeinandertreffen. Ein Vorgeschmack auf die kinetische Sprache, die dieses neue Theaterstück prägt. Im Zentrum steht Choreograf Paweł Sakowicz. Aber sein Ansatz geht über klassische Tanzarbeit hinaus.
„Es geht nicht nur darum, Menschen zu bewegen, sondern auch Bilder, Bühnenteile, Menschen im Verhältnis zur Bühne, zum Publikum, zur Dramaturgie.“
Bewegung wird hier zur Struktur – zur Art, wie erzählt wird.
Oracle, inszeniert von Łukasz Twarkowski und geschrieben von Anka Herbut, feiert 2025 bei der Ruhrtriennale Premiere. Inspiriert vom Vermächtnis Alan Turings, untersucht das Stück die Grenze zwischen Mensch und Maschine, Technikethik und die emotionale Spannung zwischen Präzision und Fehler. Die Inszenierung lässt die Grenzen zwischen Theater und Film verschwimmen: Kameras gleiten in Echtzeit durch die Szenen, ihre Präsenz ist deutlich sichtbar. „Wir tun nicht so, als wären die Kameraleute unsichtbar“, sagt Paweł. Sie sind Mitspieler:innen. Ich gebe ihnen sogar choreografische Aufgaben während der Proben.“ Diese Aufmerksamkeit für alle beweglichen Elemente – menschlich wie technisch – schafft eine vielschichtige Bühnenpräsenz, in der Technologie Teil der Erzählung wird.
Jeden Morgen trainieren Paweł und das Ensemble Bewegungsformen: Swing der 1940er Jahre, Zeitlupensequenzen, symmetrische Bilder, rückwärts laufende Vorgänge. „Wir geben den Qualitäten Namen“, erklärt Paweł. Die Bewegungspraxis bezieht sich sowohl auf historische als auch auf zeitgenössische Quellen. Der Swing-Tanz verweist auf Turings Zeit, wird aber bewusst verfremdet – beschleunigt, kontextualisiert, manchmal in Jive verwandelt, manchmal ins Unheimliche verschoben. Diese Übungseinheiten bereiten das Ensemble darauf vor, später schnell und präzise zu arbeiten – besonders in Kamerasequenzen, die oft aus langen, ungeschnittenen Einstellungen bestehen.
Präzision ist entscheidend, aber nie starr. „Ich liebe Präzision“, sagt Paweł, „aber ich weiß auch, dass manches nicht funktioniert. Und da wir über künstliche Intelligenz sprechen, die menschlicher wird, ist der Fehler an sich etwas Schönes.“ In einem Stück, in dem sich Schauspieler:innen zwischen mehreren Kameras bewegen und mit einem ständig wandelnden Bühnenbild umgehen, muss die Choreografie sowohl exakt als auch lebendig sein – nicht fehlerfrei, sondern reaktionsfähig.
„Auch wenn das Stück mit maschinenartigen Bewegungen spielt – es beginnt immer mit dem Körper.“
Trotz aller technischen Komplexität verliert Oracle nie seinen menschlichen Kern. „Ich liebe es, mit Menschen zu arbeiten“, sagt Paweł. „Auch wenn das Stück mit maschinenartigen Bewegungen spielt – es beginnt immer mit dem Körper.“ Seine Choreografie erzeugt Illusionen: Zwölf Darsteller:innen wirken wie viele mehr, wechseln Rollen, spiegeln mechanische Rhythmen und hinterfragen, was es heißt, gesehen zu werden – vom Publikum, durch die Kamera, durch ein System.
Nun, im von Kameras beleuchteten Probenraum, beginnen die Darsteller:innen zu erkunden, was ihr Körper im Bildraum leisten kann – wie sich jede Geste durch das Kameraauge verändert. Eine leise Spannung liegt in der Luft: Bewegung und Technologie beginnen, Effekte sichtbar zu machen, die ohne nicht erkennbar sind. Choreografie entsteht hier nicht nur für die Bühne – sondern für das Auge der Maschine.
Über die Autorin
Teresa Bernauer ist deutsch-portugiesische Dramaturgin und Kuratorin. Sie ist Schauspiel-Dramaturgin bei der Ruhrtriennale 2024–26. Zuvor arbeitete sie am Künstler*innenhaus Mousonturm, war Mitbegründerin vom Nocturnal Unrest Festival und koordinierte das Outreach-Projekt Places to See am MMK Frankfurt.