
Theater der Zukunft
Mit 3D-Sound Bühne neu erleben
GenZ Don’t Cry ist Theater für zwei Ohren – und zugleich ein Musiktheater-Experiment im besten Sinne: Es verbindet eine klangliche Neuerfindung der Bühne mit der emotionalen Unmittelbarkeit von Stimme, Körper und Bewegung. So entsteht ein vielschichtiges Spiel mit Raum, Klang und Wahrnehmung.
Zentral ist die akustische Perspektive: Nicht nur Sprache, Musik und Geräusche, sondern auch Bewegungen, Kostüme und selbst Materialien werden hier nach musikalischen und klangdramaturgischen Prinzipien gestaltet. Jede Laufbewegung definiert den hörbaren Raum mit, das Material der Kostüme formt den Sound der Figuren, jedes – im Theater normalerweise nicht wahrnehmbare – Körpergeräusch erzählt das Stück mit.
„Die Zuschauenden erleben nicht bloß ein akustisches Abbild der Szene, sondern sind sinnlich in die Wahrnehmung der Figuren eingebunden.“
Die mediale Grundsituation: Die Performenden tragen binaurale Mikrofone in ihren Ohren. Was darüber mitten im Bühnengeschehen aufgezeichnet wird, wird in Echtzeit auf die Kopfhörer übertragen, mit denen das Publikum ausgestattet ist. Daraus ergibt sich die besondere Wahrnehmungssituation: Jede einzelne Person im Publikum hört 1:1 das, was diese Mikrofon-Personen durch ihre Ohren auf der Bühne hören. Wer etwa in der letzten Reihe der Tribüne sitzt und räumlich weit vom Bühnengeschehen entfernt ist, kann trotzdem mit einer unmittelbaren Intimität angeflüstert werden. Und wann gibt es schon die Möglichkeit, durch die Ohren einer anderen Person zu hören? Die Zuschauenden erleben nicht bloß ein akustisches Abbild der Szene, sondern sind sinnlich in die Wahrnehmung der Figuren eingebunden – ein Perspektivwechsel, der in dieser Form des Musiktheaters das Publikum auf eine ganz neue Weise emotional miterleben lässt.
Zu sehen ist ein dystopisches Bühnensetting. Ascheberge, darin Zivilisationsmüll, ein menschhoher Bildschirm, ein Kubus, der über den Turbinen zu schweben scheint – umfangen vom Nebel, der sich über das Szenario legt. Dazwischen die jungen Darstellenden. Ein Zukunftsszenario? Eine in sich zusammengestürzte Welt, die uns noch bevorsteht oder bereits unsere Realität ist?
Dieser Bühnenraum löst sich akustisch auf, erstreckt sich bis hinter den Rücken des Publikums; der Raum dehnt sich aus, umschließt das Publikum um 360 Grad. Der Klang wird räumlich erlebbar – nicht von außen, sondern im eigenen Kopf. Die Bochumer Turbinenhalle wird von künstlich gestalteten Sound-Räumen überlagert, die die Geschichte nicht nur sinnlich direkt erlebbar machen, sondern hörbar Aufschluss geben über die Gefühle und das Handeln der Figuren.
Diese Figuren werden von zehn Jugendlichen und einer Schauspielerin dargestellt. Alltagssituationen vermischen sich mit Zukunftsvisionen, mit Rückblicken auf eine unklare Vergangenheit und eine virtuelle Realität. Irgendwo in der nicht greifbaren Zeitlichkeit begegnet man Kassandra, Operatorin in einem kleinen Planetarium der Zukunft. Sie führt Simulationen durch. Verkündet Prophezeiungen, an denen sich die zehn jungen Stimmen abarbeiten, in Widerspruch gehen, protestieren. Wird hier eine Zukunft verhandelt? Eine Supernova programmiert? Wieviel Wert haben Visionen, wie nah muss eine Vision eigentlich an der Realität sein?
„Welche neuen theatralen Spielformen eröffnen sich, wenn man durch die Ohren eines anderen hört?“
Die Inszenierung des Münchner Sounddramaturgien-Kollektivs – bestehend aus Felix Kruis, Julian Kämper und Dominik Breinlinger (hier in Co-Regie mit Wolfgang Menardi) – bewegt sich damit bewusst an der Schnittstelle von Musik, Performance, Raumkunst und auditiver Erzählweise. Sie ist zugleich ein Kommentar auf unsere heutige Klangkultur: Junge Menschen konsumieren ihre Welt über Kopfhörer – Podcasts, Musik, Games, soziale Medien –, mit einer hoch individualisierten Klangwahrnehmung. Dieses Format reflektiert diese Realität und transformiert sie in die theatral-musikalische Praxis eines neuen hybriden Bühnenformats mit emotionaler Unmittelbarkeit. Die Kurdisch-Deutsche Musikerin Gîn Bali gestaltet zusätzlich live eine weitere musikalische Ebene. In der futuristischen Welt von GenZ Don’t Cry sorgt sie damit für eine zusätzliche erzählende Perspektive.
Musiktheater, das diesen Namen ernst nimmt, fragt immer auch nach der Rolle des Klangs als Träger von Bedeutung, Affekt und Dramaturgie. GenZ Don’t Cry erweitert diese Frage in eine neue Richtung: Was bedeutet szenisches Erzählen, wenn sich der Raum vollständig ins Ohr verlagert? Wenn Stimme nicht nur frontal, sondern auch von hinten oder seitlich erklingt? Wenn das Material eines Kostüms eine eigene akustische Identität erhält? In dieser Konzeption wird jedes Geräusch zur Musik, jede Bewegung zur Partitur, jeder Raum zur Komposition. Das Publikum der Ruhrtriennale kann so in neue Grenzgänze zwischen Musik, Sound, Theater und Raum eintauchen. Welche neuen theatralen Spielformen eröffnen sich, wenn man durch die Ohren eines anderen hört?
Über die Autorin
Britta Schünemann ist leitende Dramaturgin der Ruhrtriennale und für die Vermittlung für die Projekte der Jungen Triennale verantwortlich. Nach ihrem Master in Musik und Latein an der Universität Osnabrück folgten eine Ausbildung an der Berliner Staatsoper zur Spielleiterin für szenische Interpretation von Musiktheater sowie ein zweijähriger Universitätslehrgang der Musiktheatervermittlung am Mozarteum in Salzburg. Stationen am Staatstheater Nürnberg, der Jungen Oper Stuttgart und eine anschließende schulische Lehrtätigkeit folgten. Von 2017 bis 2022 entwickelte sie als Musiktheaterpädagogin am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen Vermittlungsangebote für junge Menschen.