David Lang zählt zu den wichtigsten Komponist:innen zeitgenössischer Musik. In seinem neuesten Werk before and after nature widmet er sich bei der diesjährigen Ruhrtriennale der Natur, ohne den Menschen dabei in den Mittelpunkt zu stellen. Dass uns gerade dafür die Sprache fehlt, erzählt er im Gespräch. 

Anna Chernomordik: Geht das überhaupt, als Mensch über die Natur nachzudenken, ohne dabei wie ein Mensch zu denken?

David Lang: Das war genau die Frage, mit der ich angefangen habe: Kann man sich unsere Beziehung zur Natur aus der Perspektive der Natur vorstellen? Ich habe sehr schnell gemerkt, dass das nicht geht. Als ich diese Idee hatte, ging es mir nicht um den Klimawandel, nicht um Politik und auch nicht darum, zu entscheiden, wer in der Welt jetzt „böse“ ist oder wie verloren wir sind. Es ging mir um die Tatsache, dass wir nicht über die Welt um uns sprechen können, ohne uns selbst darin zu verorten.

Ich liebe am Komponieren, dass meine Stücke zu kleinen Laboratorien werden. Allein in meinem Studio kann ich die Fragen untersuchen, die mich interessieren. Als ich diese Idee hatte, wurde mir klar, dass es in dem Stück nicht um Klimawandel, Politik oder moralische Urteile gehen würde. Es würde darum gehen, wie unsere Weltanschauung es uns schwer macht, bestimmte wichtige Dinge in der Natur zu begreifen.

AC: Also geht es in deinem Stück um die Grenzen unserer Vorstellungskraft?

DL: In diesem Stück geht es weniger um die Welt selbst als vielmehr um meine Frustration beim Versuch, sie zu verstehen. Ich halte mich für ziemlich intelligent und glaube, dass ich Dinge verstehen kann, wenn ich mich nur genug anstrenge. Aber hier stoße ich an meine Grenzen. Diese Begrenzung gilt nicht nur für mich – sie gilt für uns alle. Sie zeigt, wie schwer es der Menschheit fällt, wirklich über sich selbst hinauszublicken.

AC: Diese komplexen Gedanken in Musik zu verpacken, klingt nach einer Herausforderung. Wie bist du dabei vorgegangen?

DL: Ich habe nach Beispielen dafür gesucht, wie unsere Interpretation der Natur dadurch beeinflusst wird, dass wir selbst Teil des Bildes sind. Jeder Satz meines Stücks lotet ein Beispiel für diese Art von Denkfehler oder Widerspruch aus. Im ersten Satz, before us, habe ich mich zum Beispiel mit mehr als fünfzig Schöpfungsmythen aus aller Welt beschäftigt. In allen gibt es eine Beschreibung des Universums, bevor der Mensch da war. Aber das ist nur durch die Verneinung möglich: „Du weißt, was Licht ist? Es gibt kein Licht! Du weißt, was Dunkelheit ist? Es gibt keine Dunkelheit!“ All diese Kulturen versuchen, die Welt durch Widersprüche zu beschreiben, damit wir das Gefühl haben, sie sei ein Mysterium. Weil wir nicht wissen können, was dort war. Und einige dieser Gegenüberstellungen sind wirklich interessant. Eine davon handelt vom Geruch des Lichts. Wie kann man sich das überhaupt vorstellen? Aber das regt dazu an, zu denken, dass es eine Welt gibt, die wir nicht wirklich kennen können. Deshalb beginnt fast jeder Satz im ersten Satz mit dem Wort „kein”. Der zweite Satz ist mein Versuch, selbst einen solchen Mythos zu schreiben. Für mich ist das der klarste Ausdruck des Problems: Ich kann mir die Welt ohne mich nicht vorstellen.

„Ich denke immer, die perfekte Reaktion auf eines meiner Werke wäre, wenn jemand Wochen später mitten in der Nacht aufwacht und sagt: ‚Dieses Stück war fantastisch, und jetzt verstehe ich es.‘“
David Lang

AC: Auch Musik nehmen wir über Sinne wahr. Was passiert dann, wenn man versucht, die eigenen Sinneswahrnehmungen zu negieren?

DL: Musik hat eine enorme Kraft, einen dazu zu bringen, Dinge zu denken, zu fühlen und zu tun, die man vielleicht gar nicht denken, fühlen oder tun möchte. Sie eignet sich sehr gut für Propaganda und um einen im Kino zum Weinen zu bringen. Ich möchte aber Werke schaffen, die mich so ansprechen, wie ich angesprochen werden möchte. Ich möchte nicht, dass mir jemand vorschreibt, was ich denken soll. Und ich möchte nicht, dass mich jemand gegen meinen Willen zum Weinen bringt oder mich in eine Situation bringt, in der mir genau gesagt wird, was ich fühlen soll. Ich denke immer, die perfekte Reaktion auf eines meiner Werke wäre, wenn jemand Wochen später mitten in der Nacht aufwacht und sagt: „Dieses Stück war fantastisch, und jetzt verstehe ich es.“ Oder aber: „Jetzt verstehe ich es, und ich bin völlig anderer Meinung.“ 

AC: Im dritten Satz beziehest du dich auf John Muir. Warum hat er dich inspiriert?

DL: Ich komme aus Kalifornien, und einer der wichtigsten Persönlichkeiten der kalifornischen Geschichte ist der Naturforscher John Muir, einer der ersten weißen Entdecker europäischer Abstammung in Kalifornien. Er beschrieb viele wunderschöne Orte zum ersten Mal und wurde zu einer äußerst wichtigen Persönlichkeit in der amerikanischen Geschichte. Es gibt eine sehr berühmte Beschreibung des Yosemite-Nationalparks, die ich mit 17 Jahren gelesen habe. Als ich sie jetzt noch einmal gelesen habe, fand ich es interessant, dass er keine Möglichkeit hat, die Schönheit dieses Ortes zu beschreiben, ohne das Christentum miteinzubeziehen. Er besucht diesen völlig unberührten, großartigen, beeindruckenden Ort. Und das einzige Mittel, das ihm zur Verfügung steht, um sich das zu erklären, ist Jesus.

AC: Ich hatte mich schon gefragt, worauf sich diese religiöse Emphase bezieht.

DL: Es ist, als könnten wir die Natur nicht um ihrer selbst willen verstehen. Dieses Paradox faszinierte mich. Und Religion und Natur gingen schon immer Hand in Hand – ein Beispiel dafür ist der vierte Satz, der von der religiösen Bedeutung der Obeliskenform inspiriert ist. Ein Obelisk ist ein physisch gewordener Sonnenstrahl, mit dem die alten Ägypter etwas Immaterielles verehrten. Wir müssen etwas auf unsere Ebene reduzieren, damit wir es sehen, berühren und fühlen können, um es zu verehren. Für mich zeigte dies, wie Menschen die Natur auf ihre eigene Ebene reduzieren, um sie zu verstehen. Wir können sie nicht so erleben, wie sie wirklich ist.

AC: Woher kommt die Idee für „last forever“?

DL: Das war der erste Satz, den ich geschrieben habe. Ich dachte mir: Warum fällt es uns so schwer, uns Veränderungen oder eine Welt ohne uns vorzustellen? Zum Teil wegen der Grenzen, mit denen ich mich bereits beschäftigt hatte, aber auch, weil wir als Menschen faul und bequem sind. Die Uraufführung dieses Stücks fand in Kalifornien statt, und wir probten in Los Angeles während der verheerenden Brände. Die Menschen, die zur Generalprobe nach Los Angeles kamen, weinten, weil ihre Häuser niedergebrannt waren. Als Menschen haben wir eine unglaubliche Trägheit der Masse. So wie wir Dinge in der Vergangenheit getan haben, werden wir sie auch in Zukunft tun. Es geht nicht nur darum, uns selbst in der Natur vorzustellen, uns vorzustellen, wie sich die Natur verändert, sondern es fällt uns auch schwer, uns vorzustellen, morgen in irgendeiner Weise anders zu leben.

AC: Im sechsten Satz beziehst du dich auf John F. Kennedy.

DL: John F. Kennedy war Präsident, als ich noch sehr klein war. Ich glaube, eine meiner ersten Erinnerungen als Junge war seine Ermordung und seine Beerdigung. Das hat mich sehr beeindruckt. Ich habe ein wunderschönes Zitat von ihm über den Ozean gefunden. Er sprach poetisch über unsere Einheit mit ihm, darüber, wie er durch unser Blut fließt. Aber er hielt diese Rede zur Eröffnung einer Yachtregatta für Reiche. Und für mich war das wie der John-Muir-Moment: Hier bietet sich uns die Gelegenheit, eine bedeutungsvolle, bahnbrechende Erkenntnis über unser Leben zu gewinnen, aber wir sind zu sehr vom Geld in der Welt, in der wir leben, eingenommen, um sie zu sehen. Auch das ist eine Einschränkung.
Der letzte Satz spiegelt eine egoistischste Perspektive wider: „Jeden Abend, wenn ich schlafen gehe, endet die Welt für mich; jeden Morgen, wenn ich aufwache, beginnt sie von Neuem. Eines Nachts werde ich nicht mehr aufwachen, und die Welt wird ohne mich weiterbestehen. Wie sollte mich interessieren, was dann geschieht?“

Dieser Satz entspringt zum Teil meiner eigenen Erfahrung, weil ich eine Krebserkrankung überlebt habe. Er fragt: Welche Verantwortung tragen wir gegenüber der Welt, nachdem wir tot sind? Ich wollte das Stück nicht in Verzweiflung enden lassen und ich wollte auch nicht behaupten, ich hätte eine Antwort. Deshalb endet die Musik ruhig, friedlich, sogar hoffnungsvoll.

AC: Gab es einen Moment, in dem dich die Gegenwart und ihre politischen Probleme eingeholt haben?

DL: Dieses Werk entstand aus jahrelanger Lektüre aller möglichen Bücher darüber, wie Menschen mit dem Klimawandel umgehen sollten.  The Silent Spring, The End of Nature usw. Letztendlich sind das alles politische Bücher, denn sie handeln davon, wie wir unsere Gesellschaft sehen und organisieren oder wie wir sie auseinanderreißen können. Eines der Bücher, das mich zu diesem Werk inspiriert hat, war Das Ministerium für die Zukunft von Kim Stanley Robinson. Es handelt von einer Klimakatastrophe, endet aber mit Lösungen und Hoffnung. Das hat mich schockiert. Ich bin an dystopische Enden gewöhnt, daher war die Idee einer positiven Lösung eine Herausforderung für mich. Ich fragte mich: Warum gehe ich immer vom Schlimmsten aus? Warum fällt es mir so schwer, mir Optimismus vorzustellen? Ich versuche zwar nicht, politisch zu sein, aber der politische Hintergrund ist unvermeidlich.

AC: Warum hast du die menschliche Stimme, das menschlichste aller Instrumente, gewählt, um die Natur ohne Menschen zu beschreiben?

DL: Die Verwendung der Stimme war der wichtigste Widerspruch, denn wenn man sich eine Welt ohne Menschen vorstellt, sollten sie dann eigentlich erst recht nicht singen. Aber wenn die Einschränkung darin besteht, dass wir die Welt nur durch unsere Brille sehen können, dann müssen auch Menschen auf der Bühne sie betrachten. Der Chor wird zu unserem Stellvertreter. Ich habe die Texte selbst geschrieben, weil ich wollte, dass die Worte Bedeutung haben und nicht nur Laute oder Silben sind. Sobald der Text da war, hat er die Instrumente angeleitet. In diesem Sinne werde ich, wenn ich mit Worten komponiere, zum Leser des Textes und nutze die Musik, um ihn zu beleuchten.

AC: Wie war es, für die Bang on a Can All-Stars zu schreiben?

DL: Es fühlte sich sehr vertraut an. Ich habe Bang on a Can vor fast vierzig Jahren mitbegründet, und die All-Stars gibt es schon fast genauso lange. Ich kenne ihren Sound und vertraue auf ihre Flexibilität. Die Bandmitglieder kommen alle aus unterschiedlichen Musikwelten – Klassik, Jazz, Rock, Improvisation – und das macht die Zusammenarbeit mit ihnen unglaublich frei. Für sie zu schreiben ist angenehm und inspirierend, denn sie sind sie selbst und sind als Ensemble nicht dazu da, um in eine traditionelle Form zu passen.

AC: Die visuelle Komponente des Stücks stammt vom Videokünstler Tal Rosner. Wie hat die Zusammenarbeit funktioniert?

DL: Meine Philosophie ist es, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die ich respektiere, ihnen meine Ideen zu erklären und ihnen dann freie Hand zu lassen. Tal reagierte darauf mit Bildern, die mal narrativ, mal abstrakt, mal mathematisch waren. Es war eine traumhafte Zusammenarbeit und ein echter Dialog, anstatt dass ich einem anderen Künstler genau vorschrieb, was er zu tun hatte.

AC: Nach all diesen Erkundungen, wie sieht deine Bilanz aus?

DL: Veränderung ist wirklich schwer. Aber letztendlich bin ich in allem optimistisch, auch wenn das dumm sein sollte. Ich glaube fest daran, dass wir unsere Probleme lösen werden. Kreatives Schaffen an sich ist ein Akt des Optimismus: Man fügt der Welt etwas hinzu, dass es zuvor nicht gab, in der Überzeugung, dass es für jemanden nützlich sein könnte. Pessimismus löst keine Probleme. Komponieren ist immer utopisch – man stellt sich vor, dass die Welt ein besserer Ort sein könnte, wenn es nur diese neue Musik gäbe.

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Autor: Anna Chernomordik | 17.9.2025