
Moderne Zuschauerschaft des Krieges
Die Gewalt des Zuschauens
Im Zeitalter der simultanen digitalen Kommunikation ist Krieg nicht mehr fern. Er entfaltet sich in Echtzeit, wird gestreamt, geteilt, inszeniert und konsumiert. Gewaltvolle Bilder verbreiten sich blitzschnell auf der ganzen Welt, oft losgelöst von ihrem ursprünglichen Kontext. Das Internet macht diese Bilder oft zu geisterhaften Abbildern, denen die Nuancen und die Komplexität fehlen, die ihnen mal Bedeutung gaben. Wenn man also heute eine Tragödie in den Nachrichten sieht, kann das als Teil einer langen historischen Tradition verstanden werden: das Leiden zu betrachten, um sich persönlich weiterzuentwickeln oder nach außen hin Tugend zu demonstrieren.
Susan Sontag argumentierte bekanntlich, dass selbst dann, wenn Fotografien den Krieg „real“ erscheinen lassen, die moralische Wirkung in einer von Bildern übersättigten Welt verloren geht (Regarding the Pain of Others, 2003). Heutzutage schauen wir nicht nur auf Kriege, sondern beteiligen uns aktiv daran, indem wir Beiträge teilen und kommentieren. Betrachter:innen werden Teil des Spektakels, helfen dabei, Bilder von Leid und Zerstörung zu verbreiten und verwandeln unbewusst Konflikt in leicht konsumierbare Inhalte. Wir glauben gerne, dass das Aufdecken von Gräueltaten die Unterdrückenden einschränken wird. Aber ist das wirklich so?
„Bilder sind nicht neutral [...] Jedes Foto kann entweder als Beweis oder als Propaganda dienen; jedes Video kann Leben retten oder beenden.“
Das Schlachtfeld ist in unsere täglichen Handy-Feeds gewandert und schafft damit ein Paradox: Wir sind dem Krieg näher als je zuvor und doch zunehmend abgestumpft gegenüber seiner ständigen Präsenz. Bilder sind nicht neutral: Sie werden eingesetzt, um Unterstützung zu gewinnen, Angst zu verbreiten und Gegner zu diskreditieren. Jedes Foto kann entweder als Beweis oder als Propaganda dienen; jedes Video kann Leben retten oder beenden.
Jean Baudrillards provokante Aussage, dass der Golfkrieg „nicht stattgefunden“(1) habe, erinnert uns daran, dass die Übertragung das Ereignis selbst überlagern kann. Heute gilt dieselbe Logik in der Ukraine, in Gaza und im Sudan – Krieg wird mit Bomben und Drohnen geführt, aber auch mit Hashtags und viralen Clips. Das Spektakel des Krieges fordert eine neue Ethik des Sehens.
Fotografieren heißt aneignen, warnte Sontag. Ethisches Beobachten muss dieser Aneignung widerstehen: Subjekte mit Würde darstellen, die eigene Verstrickung anerkennen, darauf bestehen, dass die menschlichen Kosten sichtbar bleiben. Zuschauen ist nicht mehr passiv. Es ist politisch, es prägt, wie Ereignisse verstanden und erinnert werden. Doch was ist mit Empathie in diesem System? Schärft das endlose Ausgesetztsein das Verständnis oder stumpft es das ab? Ab welchem Punkt wird Zeugenschaft zu Voyeurismus, wird Leiden zu tragischer Unterhaltung?
Von der Rundfunkübertragung zum TikTok-Krieg
Seit Sontags „Das Leiden anderer betrachten“ (2003) hat sich die Medialisierung des Krieges von einem System, das von professionellen Journalist:innen und Redaktionen gesteuert wurde, zu einem System entwickelt, das von dezentralisierten, in Echtzeit übertragenen und oft chaotischen Bildströmen dominiert wird. Zu Sontags Zeiten wurde das, was das Publikum aus Konfliktgebieten zu sehen bekam, durch einen engen Filter von Kriegsberichterstatter:innen und Nachrichtenredaktionen geleitet, wo Bilder kuratiert, verifiziert und zu zusammenhängenden Erzählungen verwoben wurden. Heute, insbesondere im Kontext von Russlands groß angelegter Invasion in die Ukraine, wird Krieg durch einen kontinuierlichen Strom von Smartphone-Videos, Telegram-Updates, TikTok-Clips, Drohnenaufnahmen und Livestreams vermittelt, die nicht nur von Journalist:innen, sondern auch von Soldat:innen, Zivilist:innen und Propagandist:innen produziert werden. Bombardierungen in Mariupol oder Angriffe auf Kiew können innerhalb von Sekunden online erscheinen, oft bevor traditionelle Medien sie verifizieren. Zudem verstärken Algorithmen tendenziell das emotional am stärksten aufgeladene Material – rohe, kontextlose Clips erhalten mehr Sichtbarkeit als reflektierte Berichterstattung.
Dieser Wandel hat das Publikum sowohl zu direkteren Zeug:innen des Krieges als auch anfälliger für manipulierte oder inszenierte Inhalte gemacht und damit jene reflektierte Distanz zerstört, die Sontag für das Verständnis des Leidens anderer als wesentlich ansah. Während des Golfkriegs 1991 erlebte das Publikum ein streng choreografiertes Spektakel: eine begrenzte Zahl satellitengespeister Übertragungen, Nachtsichtaufnahmen „chirurgischer Kriegsführung“ und offizielle Briefings, die das Narrativ eng kontrollierten. Mit dem Irakkrieg 2003 kamen dann Nachrichten im 24-Stunden-Takt, “embedded journalism“ und Blogs dazu, aber die Kontrolle durch das Militär blieb stark.
Die russische Invasion in die Ukraine, oft als erster „TikTok-Krieg“(2) bezeichnet, hat die Kontrolle vollständig aufgebrochen: Soldat:innen, Zivilist:innen und sogar Drohnen streamen ungefilterte Live-Aufnahmen und umgehen damit komplett die traditionellen Nachrichtenkanäle. TikTok-Clips, Telegram-Kanäle und virale Tweets stehen neben investigativem Journalismus und schaffen ein umkämpftes, chaotisches Medienfeld, in dem Wahrheit, Propaganda und Performance verschmelzen. Das Spektakel des Krieges hat sich von der Rundfunkübertragung zum Crowdsourcing verschoben. Das Sehen selbst ist untrennbar mit der Kriegsmaschinerie verbunden.
Operative Bilder und gamifizierte Gewalt
Dieser Zusammenbruch von Grenzen zeigt sich am deutlichsten im Aufstieg sogenannter operativer Bilder: Visualisierungen, die nicht dazu dienen, eine Geschichte zu erzählen oder Empathie hervorzurufen, sondern militärischen oder politischen Zwecken dienen. Von der Luftaufklärung in den Weltkriegen bis zu Satellitenfotos waren solche Bilder lange Zeit auf Kommandostrukturen und Pressekonferenzen beschränkt. Heute hingegen zirkulieren unzensierte Drohnenangriffe, geolokalisierte Schlachtfeldkarten und satellitengestützte Zerstörungsbilder gleichzeitig sowohl unter Generälen und als auch unter globalen Publika.
Das ukrainische Programm „Army of Drones Bonus“ macht diesen Wandel greifbar. Verifizierte Drohnenangriffe bringen Punkte, die auf einem Online-Verteidigungsmarktplatz gegen neue Ausrüstung eingetauscht werden können. Militärische Logistik wird zu einem Belohnungssystem, bei dem Akte der Zerstörung wie Erfolge in einem Spiel quantifiziert werden. Diese Logik spiegelt die Mechanismen sozialer Medien wider: Sichtbarkeit, Punkte und Belohnungen verdrängen ethische oder strategische Reflexion. Indem Gewalt zur Performance gemacht wird, verwischt die operative Bildsprache die Grenzen zwischen Krieg und Spiel und destabilisiert, wie Kämpfende und Zuschauende Verantwortung wahrnehmen.
Echos im Labyrinth
Der Minotaurus gibt diesem Prozess ein Gesicht. Im antiken Griechenland war der Minotaurus eine mächtige Metapher für Gewalt, Chaos und Geheimnis im Herzen der Zivilisation. Als Mischwesen, halb Mensch, halb Tier, wurde er aus Transgression geboren und tief im Labyrinth verborgen. Dort ernährt von rituellen Opfergaben, verkörpert er die monströse Logik der Gewalt, die Gesellschaften aus sich selbst heraus erzeugen. Der Minotaurus taucht in der modernen Kriegsführung überall auf, sei es als Drohne, Daten, Meme oder Rakete, sodass es echt schwierig ist, das Monster nicht nur in anderen, sondern auch in uns selbst, unseren Technologien und unseren Institutionen zu erkennen. Er versteckt sich hinter Ausdrücken wie „spezielle Militäroperation“, „Friedensmission“ oder „Präventivschlag“. Wir schicken Leben ins Labyrinth – Soldat:innen, Zivilist:innen, Kinder – im Glauben, dass Ordnung Opfer erfordert. Die Korridore verschieben sich, enden aber nie; was einst mythische Architektur war, erscheint heute in Form von Nachrichtenalarmen, Hashtags und endlosen Videofeeds. Wer das Labyrinth betritt, riskiert, die Orientierung zu verlieren, und wird Teil des Spektakels, das er zu verstehen versucht.
Doch unter dieser Oberfläche bleibt Krieg zutiefst mythisch, beeinflusst von alten Geschichten und Archetypen, die Vertrauen, Loyalität und Opferbereitschaft hervorrufen, Feind- und Heldenbilder schaffen. Alle aktuellen Konflikte sind von diesen hartnäckigen Mythen geprägt, die in Propaganda, Medienberichten und dem Spektakel der digitalen Kriegsführung deutlich werden. Der Mythos fungiert hier nicht als Fantasie, sondern als Bedeutungsrahmen. Krieg braucht Mythen, um sich selbst aufrechtzuerhalten: Er braucht die Geschichte der gerechten Nation, des dämonisierten Feindes und des versprochenen Sieges. Dies sind nicht nur politische Konstrukte, sondern Archetypen, die in der kollektiven Erinnerung verwurzelt sind.
„Moderner Krieg entfaltet sich für globale Zuschauer:innen in einer neuen Art von Labyrinth: weitläufig, desorientierend, voller Widersprüche, Verwirrung und simulierten Wahrheiten.“
Die mythische Linse verleiht der Brutalität der Realität emotionale und existenzielle Bedeutung. Wie Susan Sontag warnte, sind „alle Kriege heute Kriege der Bilder”, und diese Bilder greifen häufig auf ein mythologisches Unbewusstes zurück, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist diese Maschinerie klar erkennbar. Der Kreml beschwört die mythische Sprache von „Mütterchen Russland“, slawischer Einheit und heiligem Kampf, indem er Geschichte als Prophezeiung neu inszeniert. Die Ukraine antwortet mit eigenen mythischen Figuren, die Widerstand, Wiedergeburt und den Underdog verkörpern, der das Imperium herausfordert. Beide Seiten führen sowohl einen symbolischen als auch einen physischen Krieg. In diesem Sinne erstreckt sich das Schlachtfeld auf die Bereiche Erinnerung, Glaube und Geschichte. Diese Narrative verwandeln rohen Tod in Opfer und Spektakel. Sie schützen uns vor dem Unerträglichen, indem sie das Leiden in Muster einordnen, die wir bereits kennen. Und doch erhalten sie den Kreislauf aufrecht.
Historisch ist der Minotaurus ein anpassungsfähiges Symbol geblieben, stets hybrid, stets gefährlich: in der Antike als Gegner des Theseus, in der Renaissance moralisiert als Warnung vor unkontrolliertem Verlangen, im Surrealismus als Figur des Unbewusstseins. In all diesen Neuinterpretationen bleibt er ein Archetyp des Urinstinkts und der Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei. Er zwingt uns, das zu konfrontieren, was sich am Schnittpunkt von Menschheitsidealen und tiefsten Trieben befindet. Künstler:innen haben den Minotaurus lange genutzt, um die psychologischen Folgen des Krieges zu erforschen, wie Pablo Picasso in der Minotauromachie (1935), geschaffen am Vorabend des Spanischen Bürgerkriegs, wo die Kreatur verwundet und gequält gezeigt wird. Zwei Jahre später taucht diese mythische Sprache in Guernica wieder auf, wo der Stier und die fragmentierten Figuren eher die Kraft von Archetypen als buchstäbliche Darstellungen von Gewalt annehmen. In beiden Werken wird Mythos zum Mittel, Trauma in Bildsprache zu übersetzen, um dem Unfassbaren eine symbolische Form zu geben.
Moderner Krieg entfaltet sich für globale Zuschauer:innen in einer neuen Art von Labyrinth: weitläufig, desorientierend, voller Widersprüche, Verwirrung und simulierten Wahrheiten. Wir betreten es nicht mehr mit unseren Körpern, sondern mit unseren Augen, durch Bilder, Hashtags, Livestreams und Benachrichtigungen. Im 21. Jahrhundert leben wir nicht mehr im Mythos, sondern der Mythos lebt in uns. Soldat:innen wie Zivilist:innen navigieren durch das Labyrinth und treffen Entscheidungen unter dem Druck von Kräften, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen – ähnlich wie mythische Held:innen Prüfungen bestehen müssen, die sowohl ihre Verwundbarkeit als auch ihre Fähigkeit zu widerständigem Durchhalten offenbaren. Der Minotaurus wird zum Spiegel der menschlichen Existenz, indem er das Chaos und Leiden des Krieges in symbolische Form übersetzt.
(1) Jean Baudrillard veröffentlichte die provokante Essayreihe mit dem Titel „Der Golfkrieg hat nicht stattgefunden“ ursprünglich Anfang 1991 in Libération (Frankreich) und The Guardian (Großbritannien).
(2) Der Begriff „erster TikTok-Krieg“ gewann in der Anfangsphase der russischen Invasion in der Ukraine im Jahr 2022 an Bedeutung. Verschiedene Medien und Journalist:innen trugen zu seiner Popularisierung bei. So veröffentlichte beispielsweise „The New Yorker“ im März 2022 einen Artikel mit dem Titel „Watching the World’s ‘First TikTok War’“ (Die „erste TikTok-Krieg“ der Welt beobachten), in dem hervorgehoben wurde, wie Ukrainer:innen den Konflikt auf TikTok dokumentierten. In ähnlicher Weise bezeichnete „The Atlantic“ die Invasion in einem Artikel, in dem die Rolle der sozialen Medien in dem Konflikt diskutiert wurde, als „den ersten TikTok-Krieg“.
Über die Autorin
Dr. Olga Danylyuk ist eine British Academy Researcher at Risk Fellow an der Royal Central School of Speech and Drama (RCSSD) der University of London. Sie ist Forscherin, Kuratorin und Theaterregisseurin und beschäftigt sich mit Performance, Konflikten und Intermedialität. Ihre Feldforschung in der Ostukraine umfasste Dokumentationen an der Front, humanitäre Hilfe und die Entwicklung von Theaterprojekten mit jungen Menschen, die vom Krieg betroffen sind. Sie hat groß angelegte Performances wie „Letters to an Unknown Friend from New York” und „Contact Line” inszeniert und leitet das I-DO Lab LTD, wo sie interdisziplinäre Kunstprojekte kuratiert und produziert. Ihre aktuelle Dokumentarperformance „A Visit to the Minotaur“ wurde beim Voila Europe Festival in London (2022) gezeigt, gefolgt von den Straßenaufführungen „Evacuation 2022“ in Prag, Brüssel und Paris (2023) und „EMETA: The Legend of Golem“ beim Internationalen Theaterfestival Golden Lion in Lemberg (2023). Zu ihren Veröffentlichungen gehören „Combat at Gamer’s Pace: No Pause nor Reset Button” (Body, Space & Technology, 2025), „Ukrainian Theatre” in „Routledge Companion to Contemporary European Theatre and Performance” (2023) und „Empire Strikes Back: Die Maidan-Revolution 2014 in der Ukraine: Postmoderne Zuschauerschaft und der Kampf um die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit“ in „Intermediale Performance und Politik in der Öffentlichkeit“ (2019).