
Eine Oper zwischen Dokumentation und Fiktion
Philip Venables, Nina Segal und Ted Huffman im Gespräch
Philip Venables und Ted Huffman entwickeln kontinuierlich ein Oeuvre, das sich durch eine Vielfalt neuer Formen und Geschichten auszeichnet. Zusammen mit der Dramatikerin Nina Segal haben sie an ihrem bisher größten Projekt gearbeitet: We Are The Lucky Ones, eine Oper, basierend auf Interviews mit Menschen, die zwischen 1940 und 1949 geboren wurden.
Ted Huffman: Vor einigen Jahren schlugen Philip und ich ein gemeinsames Opernprojekt vor, bei dem wir Menschen am Ende ihres Lebens interviewen wollten. Dieses Projekt kam nie zustande, aber die Idee, auf eine große Zeitspanne zurückzublicken, Menschen in ihren Siebzigern und Achtzigern zu bitten, über ihr Leben nachzudenken, und dieses Material zu einer Oper zu destillieren, hat uns nie losgelassen. Das ist die Generation unserer Eltern, und Fragen der Kontinuität und des Bruchs mit dieser Altersgruppe scheinen heute so viele politische und kulturelle Diskurse zu beherrschen. Also wollten wir einen Weg finden; eine Form, um diese Fragen weiter zu erforschen.
„Was wäre, wenn wir nicht nur ein Leben, sondern eine Vielzahl von Leben zusammenbringen würden?“
Philip Venables: Während des Lockdowns las ich The Years von Annie Ernaux, die ihre eigene Lebensgeschichte vor dem Hintergrund der sozialen und politischen Veränderungen im Nachkriegsfrankreich erzählt. Wir diskutierten über das Buch und kamen gemeinsam mit Nina Segal (Dramatikerin) auf die Idee: Was wäre, wenn wir nicht nur ein Leben, sondern eine Vielzahl von Leben zusammenbringen würden, um die kaleidoskopische Geschichte einer ganzen Generation in Westeuropa zu erzählen? Wir waren schon seit einiger Zeit Fans von Ninas Arbeit und sahen darin die perfekte Ergänzung für dieses Projekt.
Nina Segal: Ich war sofort an dem Projekt interessiert, vor allem wegen seiner Ambition und seines Umfangs. Wir begannen damit, Interviewer in verschiedenen Ländern anzuwerben, darunter die Niederlande, Belgien, Deutschland, Dänemark, Schweden, Österreich, Frankreich und Großbritannien. Mehr als 70 Personen wurden anhand eines von uns erstellten Fragebogens befragt. Diese Interviews wurden dann transkribiert und übersetzt, und daraus haben wir das englischsprachige Libretto destilliert.
Ted Huffman: Am Ende hatten wir eine riesige Sammlung, aus der wir schöpfen konnten, von rohen, emotionalen Geständnissen bis hin zu banalen Kommentaren über den Alltag. Wir haben dieses Quellenmaterial auf verschiedene Weise extrahiert und geformt: Einige Teile haben wir wortwörtlich verwendet, andere haben unsere eigene Fantasie zum Weiterschreiben angeregt, und wieder andere haben wir zu kollektiven Erinnerungen zusammengefügt.
„Es hat sich ein interessanter Riss zwischen den Generationen gebildet. Und das Gefühl, dass wir als Gesellschaft am Rande einer Klippe stehen.“
Philip Venables: In diesem Sinn lebt die Oper zwischen Dokumentation und Fiktion.
Nina Segal: Was uns an dieser Generation fasziniert, ist, dass diese Menschen in einer Zeit des Mangels geboren wurden, während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Laufe ihres Lebens haben sie enorme soziale, wirtschaftliche und kulturelle Veränderungen erlebt. Sie hatten Möglichkeiten, die ihre Eltern nicht hatten, und sie erlebten eine beispiellose Welle des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts, die Entwicklung kultureller Normen, die Geburt des modernen Konsums und exponentielles finanzielles Wachstum.
Philip Venables: Die Generationen nach ihnen – unsere eingeschlossen – machen nicht die gleichen Erfahrungen. Soziale Sicherheiten verschwinden, das politische Klima wird rauer. Ganz zu schweigen von den Auswirkungen des Klimawandels.
Ted Huffman: Es hat sich ein interessanter Riss zwischen den Generationen gebildet. Und das Gefühl, dass wir als Gesellschaft am Rande einer Klippe stehen.
Nina Segal: Der Titel der Arbeit ist ein Zitat von einem der Befragten, der, als er über seine Generation nachdachte, sagte: „Wir sind die Glücklichen“.