Tyshawn Sorey ist ein Musiker, der kulturelle ebenso wie Genre-Grenzen sprengt. Mit zwei Projekten kommt der ausgezeichnete Multiinstrumentalist, Komponist und Dirigent in die Turbinenhalle.

Text: Max Florian Kühlem

Wer sich mit dem Multiinstrumentalisten, Komponisten und Dirigenten Tyshawn Sorey beschäftigt, stellt schnell fest, dass es eigentlich zwei oder drei Musiker gleichen Namens geben muss – so unwahrscheinlich wirkt es, dass sich so unterschiedliche künstlerische Ansätze auf einen Menschen vereinen. Zwei von ihnen darf das Publikum der Ruhrtriennale kennenlernen: Im Konzert mit Harish Raghavan am Bass und Aaron Diehl am Klavier erforscht Sorey als Schlagzeuger das klassische Repertoire des Jazz-Klavier-Trios. Beim Abend Cycles of My Being / Save the Boys ist er Dirigent einer Aufführung von ihm selbst komponierter Liederzyklen in romantischer Tradition.

Manchmal ist es hilfreich, das Videoportal Youtube zu befragen, um in einen künstlerischen Kosmos einzusteigen. Gänzlich unkuratiert stehen da professionelle TV-Schnipsel neben privaten Mitschnitten von Konzerten – oder alle möglichen Zwischenformen. Hier rollt sich die enorme Bandbreite von Tyshawn Soreys Schaffen mit einem Klick auf: In einem 14 Jahre alten Video aus dem niederländischen Rundfunk zum Beispiel erklärt der 1980 in Newark, New Jersey, Geborene, wie er damals am liebsten das Schlagzeug bediente: Er bringe die Trommeln und Becken gern auf ungewöhnliche Weise zum Klingen, mit Schlägen an den Rändern, indem er sie streicht oder abdämpft. Damit will er die Obertöne hervorlocken.

Das zeugt von der inneren Haltung eines Avantgarde-Musikers, der der herkömmlichen Weise, Instrumente zu benutzen, Musik zu schreiben und zu spielen, vielleicht nicht unbedingt misstraut, aber sie ganz neu herleiten, aufbauen und erfahren will. Dekonstruktion und Rekonstruktion. Nachdem er als Schüler dem Schlagzeug und dem Spiel der großen Jazz-Schlagzeuger Max Roach, Elvin Jones oder Tony Williams verfallen war, zählten zu seinen Helden bald auch Avantgarde oder Neue-Musik-Komponisten wie Karlheinz Stockhausen oder Morton Feldman. „Die Dissonanz der europäischen Avantgarde sprach zu ihm“, schreibt Adam Shatz in einem langen Artikel für die New York Times über Tyshawn Sorey und zitiert ihn mit dem Satz: „Mein ganzes Wesen ist Dissonanz“.

„Schon mit sieben Jahren entlockte er Heizkörpern, Töpfen oder Pfannen Klänge und spielte Kirchenlieder aus dem Gedächtnis auf einem ramponierten Klavier in der Nachbarschaft.“
Max Florian Kühlem

Diese Dissonanz lässt sich aus seinem Aufwachsen als Schwarzer Mensch in den USA herleiten. Wie viele andere Schwarze Kinder erhielt Sorey Förderunterricht, „möglicherweise wegen seines leichten Lispelns, das er immer noch hat“, spekuliert Adam Shatz. Er sei auch gemobbt worden von anderen Kindern, verspottet als übergewichtiger Junge, der mit einem Ghettoblaster herumlief und angeblich „weiße Musik“ hörte. In Wirklichkeit handelte es sich um Miles Davis – und eine andere Leidenschaft von ihm war Hip-Hop.

Sorey wuchs in prekären Verhältnissen auf, zog irgendwann bei der Großmutter väterlicherseits ein. Da war es besser als bei den Eltern – aber auch sie lebte in einem der gewaltvollsten Viertel von Newark. Trotzdem gelang es ihm, sein musikalisches Talent zu entfalten. Offenbar war er sogar eine Art Wunderkind: Schon mit sieben Jahren entlockte er Heizkörpern, Töpfen oder Pfannen Klänge und spielte Kirchenlieder aus dem Gedächtnis auf einem ramponierten Klavier in der Nachbarschaft. Bis heute sagt man ihm ein fotografisches Gedächtnis nach, dass er eine Partitur-Seite auswendig spielen könne, wenn er sie nur ein paar Sekunden konzentriert betrachtet habe.

Weil sein Talent erkannt und gefördert wurde, konnte er an der William Paterson University und Wesleyan University Jazz und Performance studieren, erst war sein Instrument die Posaune, später wurde es das Schlagzeug, Lehrer waren unter anderem Anthony Braxton und Jay Hoggard. Obwohl er während des Studiums schon Avantgarde-Musik komponierte, drängten ihn bezahlte Auftritte vor allem in die Rolle des (Jazz-)Schlagzeugers, mit der er lange haderte. Vor allem, wenn er als der große, Schwarze Mann zwischen weißen Musikern hinter dem Trommel-Set saß, mochte er das Klischeebild nicht, dem er da entsprach.

Er fühlte damit das Drama nach, unter dem auch Nina Simone zeitlebens gelitten hat – die eigentlich klassische Konzertpianistin werden wollte, aber in der weißen Welt nur als Blues- und Jazzmusikerin akzeptiert wurde. Deshalb sah Sorey es sehr kritisch, als der renommierte Pulitzer Preis 2018 an Kendrick Lamar verliehen wurde. So sehr er den Schwarzen Künstler auch verehrt – der Preis für eine kommerzielle Hip-Hop-Platte sei eine Art Beleidigung für die vielen Schwarzen Komponisten von Konzertmusik gewesen, die bei der Preisverleihung übergangen wurden. So mag er 2024 Genugtuung erfahren haben: Da erhielt er selbst den Pulitzer-Preis in der Kategorie Musik für sein beim Luzern Festival uraufgeführtes Werk Adagio (For Wadada Leo Smith).

Dass Tyshawn Sorey dem Schlagzeug trotz der zwischenzeitlichen Skepsis und der Rollenkonflikte treu geblieben ist, ist ein Glück. Bei Youtube findet man noch eine Menge Live-Videos, auf denen er als experimenteller Schlagzeuger zum Beispiel neben dem bekannten Pianisten Vijay Iyer frei improvisiert. Das ist nicht immer zugänglich und manchmal braucht man einen langen Atem, um den verschlungenen Pfaden der Musiker zu folgen. In der Corona-Zeit, während der mit John Coltranes Pianisten McCoy Tyner ein großer Held von ihm starb, fand er allerdings zu seiner Liebe für das klassische Jazz-Trio (zurück). Seit 2022 erforscht er dessen Repertoire mit dem Pianisten Aaron Diehl und aktuell Harish Raghavan am Bass. Stücke wie der berühmte Standard Autumn Leaves erklingen unter ihren Händen wie neu geboren, Soreys Schlagzeug klingt extrem einfühlsam und detailreich, fein, sanft und hell. Auf dem aktuellsten Trio-Album The Susceptible Now widmet er sich auch einem Stück von McCoy Tyner, Peresina – und man kann das Original nur noch erahnen oder erfühlen. Er hat es dekonstruiert und neu zusammengesetzt.

Bei seinen Jazz-Arbeiten changiert der Musiker zwischen Improvisation und fester Notation. Diesen Anspruch hat er auch an klassische Konzertmusik: Seine Musiker sollen frei sein, die Partituren auch neu zusammenzusetzen. Kulturelle und Genre-Grenzen sind nicht so sein Ding. Deshalb ist das Hauptkonzert, in dem er bei der Ruhrtriennale als Komponist und Dirigent auftritt, auch wieder ganz woanders angesiedelt: Mit dem Liederzyklus Cycles of My Being und der zwanzigminütigen Countertenor-Arie Save the Boys reiht sich Sorey ein in die Riege der großen Lied-Komponist:innen. Er nutzt die Intimität des Genres, um aufzuzeigen, was es bedeutet, heute als Schwarzer Mann in den USA zu leben.

Der Beitrag erscheint in der Kultur.West als Teil des Ruhrtriennale Specials 2025.

Termine und Tickets
August
Fr 29.8.2025
Sa 30.8.2025
So 31.8.2025
19 Uhr Konzert Turbinenhalle an der Jahrhunderthalle Bochum

Autor: Max Florian Kühlem | 25.6.2025