
Boy
Von Alice Hasters
„Longing for tomorrow“ bedeutet auch eine Sehnsucht nach neuen Gedanken. Wir haben wichtige Stimmen der Gegenwart gebeten, über Teile unseres Festivalprogramms zu reflektieren. Den Auftakt macht die Buchautorin, Journalistin und Kulturkritikerin Alice Hasters mit einem Essay über „Race“ und Männlichkeit. Während Tyshawn Sorey in seinen Werken Save the Boys und Cycles of My Being die US-amerikanische Perspektive auslotet, baut Alice Hasters eine Brücke nach Deutschland.
Da ist Essen in der Küche. Der Fernseher läuft, aber niemand schenkt ihm so richtig Aufmerksamkeit. Die Körper entspannen sich und muten ihrem Umfeld zu, sie zu halten. Sie sinken mehr in die Sofas ein, lehnen ihre Köpfe gegen die Wand, stützen sich mit beiden Händen auf die Schulter eines anderen, wenn sie anfangen zu lachen. Lachen, laut und befreiend; ein Aufschrei, dem ein Decrescendo folgt, nur noch durch den wippenden Torso zu vernehmen ist. Vielleicht spülen Tränen die letzte Bekümmertheit aus den Augen und schlussendlich, wird alles mit einem Seufzer beendet und man fühlt sich, als sei die Seele gerade Karussell gefahren. Das sind die Momente, in Philadelphia, New York, New Jersey, in Oakland, bei meiner Familie. Viel zu selten für mich, denn ich bin nur alle paar Jahre dort, aber dafür umso wertvoller. In diesen Momenten wird mein Schwarzsein zur Selbstverständlichkeit und ist davon befreit Provokation, Spektakel oder Abweichung zu sein.
An diesen Tagen, kommt der Moment, wo Geschichten erzählt werden. Alte Erlebnisse, neuster Gossip. Und irgendwann ertönt ein Wort: Girl. Wie in: Giiiiirl! Gurl!! Girl.
Wie ein Arm, der dich zu sich heranzieht. Ein Ausdruck von Intimität und Vertrauen. Er streckt meine Wirbelsäule und hebt mein Kinn. Er ist eine Einladung, eine Tür zu etwas, dass du noch nicht weißt. Was du nicht glauben können wirst. “Girl! Let me tell you” “Girl! You won't believe it.” “Girl! Really?!” In “Girl” steckt Liebe. Vertrauen. So sehr, dass “Girl” geschlechtsunabhängig wird. Jeder kann ein “Girl” sein.
So wie alles, was Schwarze Menschen mit Bedeutung füllen, ist “Girl” mittlerweile überall. Auch in Deutschland nennen sich junge Leute gegenseitig “Girl”, mit den gleichen Absichten. Man könnte jetzt über das Ärgernis namens kulturelle Aneignung sprechen, aber darauf möchte ich nicht hinaus. “Girl” ist ein Wort, dass es auf die andere Seite geschafft hat. Von Erniedrigung zu Ermächtigung.
Insbesondere in den Südstaaten wurden Schwarze Frauen “Girl” genannt, wenn man Macht über sie ausüben wollte. Weiße Menschen sprachen sie so an, wenn Befehle oder Maßregelungen folgten. Dieses “Girl” steckte voller Verachtung und Gefahr. Eine Drohung, der es sich nicht zu widersetzen lohnte, weil dahinter noch mehr Gewalt wartete. Worte tragen die Geschichte ihrer Verwendung immer mit sich. Die Bemühung und die Kraft “Girl” mit neuer Bedeutung und Emotionen zu besetzten, sogar umzukehren, ist ein wahres Zeichen des Widerstands. Was für ein Triumph.
Doch während sich das Wort “Girl” von seiner rassistischen Konnotation emanzipiert hat, ist mit “Boy” nicht das gleiche passiert. “Boy” beschwört noch immer Erinnerungen der Vergangenheit hoch. Immer noch besitzt es die Macht zu erniedrigen. Plantagenbesitzer und Polizeibeamte - im “Boy” steckt ihr Echo, steckt noch immer Peitsche, Strick, Pistole, Knie, die die Atemwege abdrücken. Ein blutroter Faden.
“Boy” untersagt Schwarzen Männern die Fähigkeit, erwachsen zu werden. Darin spiegelt sich das Absprechen von Vernunft, Unabhängigkeit, Intelligenz, Autorität, Respekt. Dieses Absprechen, dieses Nicht-Erkannt-Werden, in seinen Fähigkeiten, in seinem Potential, in seiner Ebenbürtigkeit, ist bloße Schikane, wenn es als “Boy” daherkommt. Jedoch schaukelt es sich allzuoft hoch, mündet darin, vom Ladendetektiv verfolgt zu werden, auf der Straße den Ausweis zeigen zu müssen, mit blinkenden Sirenen dazu aufgefordert zu werden, rechts ranzufahren. Dieses Absprechen, dieses Nicht-Erkannt-Werden, ist in auch, nicht selten, ein Todesurteil.
Seit einigen Jahren schon, seitdem es die Technik möglich macht, gehen Videos um die Welt, die Morde von Afroamerikanern zeigen. Als Beweisführung dafür, dass in den USA immer noch geschieht, was gerne als Vergangenheit abgestempelt wird. Ich denke an Philando Castille, der 2016 in seinem Auto saß, mit seiner Freundin Diamond Reynolds und ihrer Tochter. Als sie von der Polizei angehalten werden, scheint Reynolds schon die Gefahr zu begreifen, holt ihr Smartphone heraus und beginnt eine Live-Übertragung, in der Bemühung, Zeug*innen vor den Bildschirmen zu versammeln. Als der Polizeibeamte an das Fahrerfenster tritt und nach Führerschein und Fahrzeugpapieren bittet, lässt Philando Castille ihn wissen, dass sich eine Waffe im Auto befindet. Der Polizist gerät in Panik und fordert Castille auf, nicht nach dieser zu greifen. Castille und Reynolds versichern dem Polizisten, das er das nicht tut, es auch nicht vorhat. Doch der Polizeibeamte kann ihn nicht hören, nicht durch seine Angst und seine Projektionen hindurch. Er glaubt ihm nicht, glaubt nicht, dass er einen vernünftigen, verantwortungsvollen Mann vor sich hat. Er schießt. Sieben Mal. Castille stirbt.
Auch wenn “Boy” Schwarzen Männern den Respekt verweigert, bedeutet das nicht, dass sie wirklich als Kinder wahrgenommen werden. So wie wir Schwarzen Männern das Erwachsensein verweigern, untersagen wir Schwarzen Jungs die Kindheit. Denn letztendlich geht es bei rassistischen Zuschreibungen darum, Möglichkeiten des Seins zu verhindern. Sie sind eine Antithese zum Menschsein.
Studien zeigen, dass Schwarze Kinder oft älter geschätzt werden als weiße. Und das wird zu ihrem Nachteil. Wo Schwarzen Mädchen und ihren Körpern allzuoft eine Promiskuität zugeschrieben wird, können Schwarze Jungs die auf sie projizierte Bedrohlichkeit nur schwer abschütteln. Besonders, wenn ihre Körper als zu groß, zu schwer, zu muskulös, zu dunkel gelten. Der offizielle Begriff dafür heißt Adultifizierung. Auch das kann ein Todesurteil sein.
An einem Novembertag 2014 in Cleveland, Ohio, spielte der zwölfjährige Tamir Rice mit einer Luftpistole. Jemand rief die Polizei, die kurz darauf angefahren kam. Der Beamte stieg aus seinem Wagen und schoss sofort auf Tamir, der kurz darauf starb. Man habe ihn für einen Erwachsenen Mann gehalten, hieß es danach. Denn Tamir war 1,70 Meter groß und 90 Kilo schwer. Doch man hielt ihn nicht für einen Mann. Man hielt ihn für ein Monster, ein Ungeheuer, das niedergeschossen werden musste. Keine Sekunde lang war da ein Gedanke, dass Tamir ein mit Würde ausgestatteter Mensch war. Schon gar nicht ein Kind.
In Deutschland schauen wir gerne auf die USA, auf diese Videos, und üben uns in Fassungslosigkeit, gerade weil es nichts gibt, was wir tun können, von der anderen Seite des Atlantiks aus. Dabei vergessen wir gerne, dass die Erzählungen über Schwarze Jungs, Schwarze Männer, auch hier wirken. Auch hier können sie zum Todesurteil werden. Wir vergessen die millionenschwere Kampagne gegen Schwarze Männer in den 1920ern - “Die Schwarze Schmach” - die Bilder, Geschichten und Filme, die Deutschland produzierte, um Angst zu schüren. Wir vergessen, dass diese Kampagne einige dazu brachte, sich der NSDAP anzuschließen. Wir vergessen, dass wir in den 1950ern Schwarze Kinder in Jugendheime brachten und zur Adoption frei gaben, weil es unvorstellbar schien, sie Teil unserer Gesellschaft zu machen. Wir vergessen die 1990er, Baseballschlägerjahre, in denen Dutzende zu Tode geprügelt wurden. Und als 2015 die Zeitungen gefüllt waren, mit Bildern von Schwarzen jungen Männern, in Booten, in Zügen, da stieg die gleiche Panik, der gleiche Hass wieder auf, der schon seit Jahrzehnten in diesem Land wabert und, hier in Deutschland, genauso zum Todesurteil werden kann.
Ich denke an Nelson. Ein 15-jähriger Junge, der am ersten August 2025 in der Justizvollzugsanstalt in Ottweiler starb. Schon hier könnte man fragen, warum Nelson nicht im Jugendgefängnis war, wenn er doch noch ein Teenager war. Ein Wachmann, so erzählen es Augenzeugen, schlug ihn in seiner Zelle zusammen. Nelson starb kurz danach. Die offizielle Todesursache heißt Suizid. So wie es das bei Oury Jalloh auch hieß. Jalloh verbrannte 2005 in einer Polizeizelle in Dessau, während seine Hände und Beine fixiert waren. Wir hätten wahrscheinlich nie von Nelson erfahren, hätten 17 Gefangene nicht nach dem Vorfall protestiert und sich geweigert, in ihre Zellen zurückzukehren.
Ich denke an Mouhamed Dramé. Er war16 Jahre alt als er von der Polizei 2022 in Dortmund mit einem Maschinengewehr erschossen wurde. Dramé hatte ein Messer in der Hand, war suizidal und einige Meter von den Polizisten entfernt, die geschützt hinter einem Bauzaun standen. Trotzdem schossen sie.
Ich denke an Lorenz. 21 Jahre alt und frustriert darüber, dass ihm der Zugang zu einem Club in Oldenburg verweigert wurde. Er legte sich mit den Türstehern an und ergriff dann die Flucht. Die riefen die Polizei. Lorenz trafen vier Schüsse, von der Seite und von hinten.
Was wäre gewesen, wenn jemand diesen Jungs Fürsorge statt Gewalt entgegengebracht hätte? Wenn sie nicht als gefährlich wahrgenommen, sondern in ihrer Verzweiflung erkannt worden wären? Wenn man ihnen Fehler zugebilligt hätte. Wenn da Sanftheit gewesen wäre? Was wäre, wenn man sie der Rettung würdig empfunden hätte.
“Save the Boys” schrieb Frances Harper vor fast 140 Jahren. Ein Flehen, das in der Gegenwart widerhallt. Manche versuchen es. Ich sehe Demo- und Spendenaufrufe für Nelson und für Lorenz, Forderungen nach Gerechtigkeit für Mouhamed auf Social Media. Und während ich scrolle, taucht auf einmal ein Video in meiner Timeline auf. Zwei Schwarze Jungs, in einer US-amerikanischen Nachbarschaft. Es muss warm sein, denn sie tragen keine T-Shirts. Ein paar Tattoos schmücken ihre Oberkörper. Sie fahren zu zweit auf einem Tandem-Fahrrad und singen Natasha Bennigfields Lied “Unwritten”. “Drench yourself in words unspoken. Live your life with arms wide open. Today is where your book begins”, trällern sie. Und fahren dem Sonnenuntergang entgegen. Unbekümmert. Allem zum Trotz.
Über die Autorin
Alice Hasters ist Buchautorin, Journalistin und Kulturkritikerin. Sie veröffentlichte 2019 den Longseller Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten (hanserblau). Die großen (Identitäts-)Krisen unserer Gegenwart und Gesellschaft stehen im Fokus ihres im Oktober 2023 erschienenen zweiten Sachbuchs Identitätskrise (hanserblau). Als Redakteurin ist sie bis 2021 für die Tagesschau und Jetzt mal konkret (rbb) tätig, bis 2022 als Host für Einhundert – Storys mit Alice Hasters (Dlf Nova). Mit ihrer Freundin Maxi Häcke produziert und präsentiert sie seit 2016 den Podcast Feuer&Brot, in dem die beiden alle zwei Wochen aktuelle Themen aus Popkultur, Politik und Gesellschaft unter die Lupe nehmen.