„Und ich denke oft, Vergangenheit und Zukunft sind einander so ähnlich. Die Pathologin und der Wahrsager, der Archäologe und die Science-Fiction-Autorin. Auf gewisse Weise tun sie exakt dasselbe. Sie alle versuchen etwas zu verstehen, zu dem sie nie Zugang haben werden. Seht ihr? In einem Leichnam herumzuwühlen oder sich eine ungewisse Zukunft vorzustellen, auf eine Art ist das genau dasselbe, es ist genau dasselbe.“ 

Auszug aus Like Dovers Do (Memoiren der Medusa) von Sivan Ben Yishai, erschienen bei Suhrkamp Theater

Das Gespräch führte Jan Bednorz, Dramaturg der Ruhrtriennale, der Brave New Voices 2025 gemeinsam mit Sivan Ben Yishai kuratiert hat.
 

Jan Bednorz: Sivan, du bist Gastgeberin der Reihe Brave New Voices. Kannst du dich unseren Leser:innen kurz vorstellen?  

Sivan Ben Yishai: Mein Name ist Sivan Ben Yishai. Ich lebe in Berlin seit 14 Jahren. Ich würde sagen, dass ich meine Zeit ausschließlich dem Schreiben widme. Früher habe ich mehr im Bühnen-Kontext gearbeitet, habe Regie geführt, bin selbst aufgetreten. Jetzt widme ich mich Worten. Paradoxerweise habe ich erst mit dem Schreiben angefangen, als ich nach Deutschland gekommen, als sich die Sprache, in der ich agiere, verändert hat. Ich schreibe auf Englisch, mein Englisch wird ins Deutsche übersetzt, und in diesem Spektrum zwischen den Sprachen, zwischen Hebräisch, meiner Muttersprache, Englisch, der Sprache, in der ich schreibe, und Deutsch, der Sprache, in der meine Stücke aufgeführt und meine Essays gelesen werden, denke und lebe ich, privat und politisch. 

Welche Themen verhandelst du literarisch?  

Thematisch denke ich an Hervé Guibert, der sagte, er sei wie der Wissenschaftler und die Ratte, die er aufschlitzt. Ich nehme eine Biopsie meines eigenen Körpers vor und beziehe mich damit auf meinen privaten, sozialen und politischen Körper, den ich seziere und in den ich hineinzoome. Thematisch bewege ich mich immer in einem Spektrum zwischen feministischen Kämpfen und Fragen danach, wann diese Kämpfe enden, ob sie jemals enden. Ein anderes Thema ist das israelisch-palästinensisch-deutsche Bermuda-Dreieck, wie ich es nenne, der Bereich, in dem Diskurse enden, und das Schreiben beginnen kann. Der letzte Bereich wäre die Kritik an Institutionen, vor allem im Kontext des Theaters, seinem Vermächtnis und Fragen nach Machtdynamiken. Für mich geht es niemals nur um ein Thema, sondern mehr um diesen fließenden Bereich zwischen den Themen. 

Welche Herausforderungen siehst du in der aktuellen gesellschaftspolitischen Lage für die Kunst? 

Als Künstlerin frage ich nach unserem Widerstand. Wo sollten wir unseren Widerstand hören? Welchem Protest schließen wir uns an? Welche Proteste führen wir an? Geht es uns nur um die Proteste, die uns direkt berühren, die mit Budgetkürzungen, Gehältern oder Stellenabbau zusammenhängen? Oder finden wir einen Weg, uns auf unseren Körper selbst zu berufen, als Kunstindustrie, als Kunstwelt, ihn zu analysieren, sehen, wie er uns hilft, die Veränderungen unserer Gesellschaft zu verstehen, unter dem Einfluss dieser starken Kräfte, die die Stadt, das Land, die ganze Welt beherrschen. 

Longing for Tomorrow ist das Motto der Ruhrtriennale unter der Intendanz von Ivo Van Hove: Was sind für dich die dringendsten Themen von heute und was sind die Themen von morgen?  

Wenn ich an morgen denke, denke ich an ein anderes Erbe, das ein eher koloniales, eher imperialistisches, eher patriarchales, eher produktgetriebenes Vermächtnis ist. Es lehrt uns, in Rezepten und Skripten zu denken, oder in großen Bühnenbildern. Dabei suchen die dringenden Fragen unserer Zeit, die wirklichen Probleme unserer Zeit, jetzt sofort nach einer Antwort. 

Jetzt gerade sammeln wir neue Werkzeuge, oder versuchen, neue Werkzeuge zu finden, um über Widerstand nachzudenken, über Leben und Überleben. Darüber, unsere Nachbar:innen zu unterstützen, zu verstehen, wer unsere Communities sind, und wie wir Allianzen bilden können.

„Ich stelle mir einen Raum vor, in dem [...] politische und poetische Positionen eingenommen werden, der Stimmen repräsentiert, die in bestimmten Diskussionen häufig nicht präsent sind.“
Sivan Ben Yishai

Wie sieht für dich ein idealer Diskursraum aus?   

Wenn ich über den Raum nachdenke, den wir in Brave New Voices für die Ruhrtriennale schaffen, dann denke ich an die Art und Weise, wie ich mit Sprache umgehe. Wir wollen einen generationenübergreifenden, themen- und sprachenübergreifenden Raum schaffen. Ich zum Beispiel denke auf Hebräisch, schreibe auf Englisch und kommuniziere auf Deutsch. Ich spreche gerne auf Englisch, um mich bestmöglich auszudrücken, und ich möchte, dass meine Gesprächspartner:innen auf Deutsch sprechen, um sich ebenfalls bestmöglich auszudrücken. 

Es ist ein Raum, der auf gewisse Weise verletzlich ist. Ich habe immer das Gefühl, dass ich mit gebrochenen Knochen schreibe. Ich schreibe mit Fehlern. Ich definiere Schöpfergeist auf eine bestimmte Weise neu. Meine Ideen fallen nicht unbedingt durch ausgefallenes Vokabular auf, vielmehr müssen sie sich in einer anderen Form ihren Weg bahnen. Ich stelle mir einen Raum vor, in dem wir uns einem Thema aus verschiedenen Positionen nähern. Ich stelle mir einen Raum vor, in dem ein:e Expert:in sitzt, in dem poetische und poetologische Positionen eingenommen werden, der Stimmen repräsentiert, die in bestimmten Diskussionen häufig nicht präsent sind. Ich stelle mir vor, wie ein:e Expert:in mit einem:einer Nicht-Expert:in spricht, ein Gespräch, in dem unterschiedliche Perspektiven, unterschiedliche politische Realitäten aufeinanderprallen. 

Was zeichnet das Brave New Voices Format für dich aus? Wie übertragen wir diese Utopie in den Diskursraum, den wir in den vier Veranstaltungen etablieren wollen?

Wir wollen ein Ökosystem schaffen aus verschiedenen Stimmen, verschiedenen Körpern, verschiedene Altersgruppen. Ich sehe stage animals, ich sehe unser Publikum, und ich sehe, wie wir uns alle an einer Diskussion beteiligen, die kein Fazit haben muss, die nicht unbedingt zu einer Lösung führen muss. Wir suchen nicht nach einer vorgefertigten Lösung. Wir streben nach einer intelligenten Diskussion. Wir möchten unsere eigenen Positionen erweitern, unser Verständnis der Dinge, auch, wenn es nur ein Millimeter ist. Ich glaube, wenn wir das tun, werden wir wahrscheinlich Erfolg haben. 

„Wir wollen keine Vorträge über die verschiedenen Themen halten, sondern uns vielmehr in den Nexus zwischen den Themen vorarbeiten.“
Sivan Ben Yishai

Welche Themen wollen wir auf der Brave New Voices Bühne besprechen? Worin siehst Du die Verbindung zwischen den Themen?  

Als du und ich die Kuration für Brave New Voices gemacht haben, wollten wir ein breites Spektrum an Themen durchgehen. Wir sprechen also über Kapitalismus und Klimawandel und Klimagerechtigkeit. Wir bewegen uns im Spektrum zwischen Einsamkeit und KI. Wir wollen keine Vorträge über die verschiedenen Themen halten, sondern uns vielmehr in den Nexus zwischen diesen Themen vorarbeiten, den Bereich, in dem alle Themen miteinander verwoben sind. Wir können nicht über Kapitalismus sprechen, ohne über Einsamkeit zu sprechen. Und man kann nicht über Einsamkeit sprechen, ohne über KI zu reden. In gewisser Weise versuchen wir, in diesen schwer fassbaren Bereich zwischen den Themen vorzudringen. Wir wollen untersuchen, wie sich diese in unseren Körpern manifestieren. Wir werden versuchen, Erfahrungen zu sammeln, versuchen zu verstehen, welche Rolle diese Themen in unserem Denken, unserem Kunstschaffen und in der politischen Analyse unserer Zeit spielen. 

Brave New Voices denken wir in diesem Jahr im Plural: in einer Vielzahl von Stimmen und Körpe, die hier zusammenkommen, die einander ergänzen und vielleicht auch einander widersprechen. Sivan, wie kommt das alles zusammen?

Brave New Voices startet am 21. August 2025, jeden Sonntag in der Jahrhunderthalle Bochum. Wir sprechen auf Deutsch und auf Englisch. Wir werden mit einer Vielzahl von Gästen sprechen. Wir werden junge Stimmen haben. Wir werden Stimmen haben, die über viel Fachwissen verfügen. Wir werden versuchen, nach den Verbindungen zwischen den Gesprächen zu suchen. In gewisser Weise sehen wir die Reihe als Ganzes an. Vier Termine, die eine komplette Diskussion ergeben. Vier Termine, an denen wir das gleiche Ziel verfolgen. Wir freuen uns auf alle, die sich uns anschließen und mit uns sprechen. Wir werden einen Raum schaffen, in dem Stimmen eingreifen können, um Zwischenrufe zu geben, um sich einer Diskussion anzuschließen, aus der wir mit mindestens einem neuen Gedanken herausgehen. Einer neuen Idee über die Gegenwart, in der wir leben, und über die Zukunft, in die wir eintreten.

Über den Autor

Jan Bednorz, 1999 im Ruhrgebiet geboren, bekennender „GenZler“, ist Teil des Dramaturgie-Teams der Ruhrtriennale. Während seines Studiums der Germanistik und Philosophie im Bachelor und Master hospitierte und arbeitete er u. a. am Schauspielhaus Bochum, war Teil des Club.Ruhr, dem jungen Freundeskris der Ruhrtriennale, und assistierte in unterschiedlichen Produktionen im Theaterbetrieb. Als Autor für das Kulturmagazin STROBO – dem Magazin für die junge Szene im Ruhrgebiet – porträtiert er regelmäßig die Kulturhighlights im Ruhrgebiet. Berufsbegleitend absolviert er eine Ausbildung zum Theaterpädagogen.

Portait von Ruhrtriennale-Dramaturg Jan Bednorz
© Daniel Sadrowski

Autor: Jan Bednorz | 30.5.2025