Bei der Ruhrtriennale 2021 standen Alla Zagaykevych und Yana Shlyabanska, zwei Komponistinnen und Performerinnen elektronischer Musik aus Kyiv, im Rahmen der Konzertreihe MaschinenHausMusik auf der Bühne der Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord und präsentierten dem Publikum ihr eigens für die Ruhrtriennale entwickeltes Programm Kyiv: Electroakoustyka. Der Abend stand im Zeichen des ukrainischen Futurismus, eine Kunstbewegung, die ästhetisch eine Brücke zwischen der westlichen und der osteuropäischen Avantgarde schlug, bis sie vom stalinistischen Regime gewaltsam erstickt wurde.
Als wir uns am späten Abend des 8. September 2021 verabschiedeten, ahnte keine:r von uns, welche Katastrophe ein halbes Jahr später über ihren Staat, über ihr Leben und jenes aller Ukrainerinnen und Ukrainer hereinbrechen würde, dass nebenan in der Kraftzentrale des Landschaftsparks hunderte ukrainische Flüchtlinge Unterkunft finden würden – und dass die lebendige, von großer Eigenständigkeit geprägte elektronische Musikszene Kyivs auf einen Schlag verstummen würde. Zumindest für einen Moment.
Wie erleichtert waren wir über die Lebenszeichen, als Alla Zagaykevych und Yana Shlyabanska auf unsere Kontaktaufnahme nach Kriegsausbruch antworteten. Yana war inzwischen aus der Ukraine geflüchtet, Alla war in Kyiv geblieben. Auf unsere Einladung, als Künstlerinnen des Festivals auch in dieser Zeit die Verbindung zu halten und trotz der existenziell bedrohlichen Situationen, in denen sie sich befinden, ihre Stimmen zu erheben, zeigten sie sich sofort bereit und vor allem froh, als Künstlerinnen weiterarbeiten zu können, Musik machen zu können, als Künstlerinnen nicht vergessen zu werden – von uns wie von anderen Menschen weltweit, die mit ihnen den Kontakt halten und ihnen Mut machen in dieser Zeit.
Über die ersten Tage des Krieges schrieb uns Alla, dass sie und alle um sie herum erst einmal versuchen mussten zu verstehen, was geschehen war, warum ein Land ein anderes einfach zerstören will. Als Kompositionsprofessorin an der Musikakademie in Kyiv unterstützte sie die kreativen Ideen ihrer Studierenden in diesen Tagen, sei es auch nur auf gedanklicher Ebene. Jede:r sollte für sich entscheiden, ob Komponieren sich in diesem Moment richtig anfühlte oder nicht. »Mir schien, dass es den Studierenden hilft, an ihren Kompositionen weiterzuarbeiten und darin ein Stück ›normales Leben‹ aufrecht zu erhalten«, so Allas Eindruck.
Aber die Situation erlaubte nicht allen Studierenden, weiterzuarbeiten. »Wir haben auch Studierende evakuiert«, berichtete Alla Zagaykevych. »Da wir ein Erasmus-Austauschprojekt mit der Musikhochschule Freiburg haben, konnten 18 Studierende der Kyiver Akademie nach Freiburg gehen. Im Mai bin ich sogar selbst dorthin gereist und habe ein Kompositionsseminar unterrichtet. Es ist mir sehr wichtig, wieder reisen zu können.«
Auch ihre eigene künstlerische Arbeit hat Alla Zagaykevych seit Ausbruch des Angriffskrieges aufrecht erhalten. »Mir ist sehr bewusst, dass es zu früh ist, Musik über den Krieg zu schreiben, aber es gab viele Musiker:innen in Kyiv, die sich treffen und zusammen spielen wollten. Eine dieser Sessions haben wir im Studio aufgenommen. Für mich ist es essenziell, an diesem Gefühl des gemeinsamen Spielens festzuhalten in Zeiten des Krieges.«
Im Auftrag der Ruhrtriennale hat Alla Zagaykevych das Stück Le voyage au bout de la nuit (Reise zum Ende der Nacht) komponiert und zusammen mit dem Geiger Andriy Pavlov produziert. »Ich habe diese Musik in Kyiv während der russischen Militärinvasion der Ukraine im April/Mai 2022 entwickelt«, schreibt Alla dazu. »Der Titel stammt von Louis-Ferdinand Celine. So hat er seinen 1932 erschienenen Roman über den Ersten Weltkrieg genannt«.
Über ihr Stück plumbum schreibt Yana Shlyabanska:
»Das Stück plumbum für die Ruhrtriennale ist eine elektroakustische Arbeit, die auf der Quetschungserfahrung eines verwundeten ukrainischen Soldaten basiert. Ich war sehr beeindruckt, als er über Kopfverletzungen sprach und sie mit Klang illustrierte. Dieses Klangfragment ist in das Werk eingeflossen, zusammen mit den aufgenommenen und bearbeiteten Klängen von Wassergefäßen, die in eine dunkle, bewegte Textur verwandelt wurden. Für mich sind das Erinnerungen, die sich im Kopf auf beschleunigte, chaotische und nichtlineare Weise abspielen. Es ist, als ob wir in einem Zeitzug reisen, der sich jedoch tief und weit bewegt.
Der Titel des Werks stammt aus einem Interview mit demselben Soldaten, der sagte, er habe die Bewegung eines sich ausbreitenden Bleirings und den Geruch des Todes gespürt.«